Bewegungslernen und Neurophysiologie

Die Muskulatur - Unser größtes Sinnesorgan

Neuere Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften legen nahe, dass das effektive Erlernen von Bewegungen und Körperhaltungen sehr viel stärker über die Wahrnehmung und über die sensorische Seite unseres Nervensystems und über innere Bilder erfolgt als über motorische Strukturen. Unsere Muskulatur, die ca. 70% - 80% unserer Körpermasse ausmacht, ist entgegen landläufiger Meinung sehr viel mehr als nur das Arbeitspferd, das sichtbare Wirkungen vollbringt. Sie ist zugleich ein großes sich selbst spürendes Sinnesorgan, in Komplexität und Wirkung durchaus vergleichbar mit den nach außen gerichteten Sinnesorganen wie Augen und Ohren.

Zwei senso-motorische Systeme

Entscheidend für Bewegungslernen ist, zu verstehen, dass wir nicht eines, sondern zwei sehr unterschiedliche senso-motorische Systeme in uns tragen. Das Alphasystem hat seinen Ursprung in der Großhirnrinde, den sensorischen und motorischen Arealen des Cortex, und ist eng verbunden mit bewussten Wahrnehmungen. Es aktiviert die Skelettmuskulatur durch willentliche Kommandos wie z.B. einen Arm zu heben. Es unterliegt unserer bewussten Kontrolle, ist aber sozusagen „blind“ gegenüber internen Zuständen der Skelettmuskulatur wie Muskeltonus und Ausmaß und Geschwindigkeit von Muskellängenänderungen. Das zweite System, das Gammasystem, entspringt tief in den „alten“ Teilen des Gehirns und ist mit sensorischen Zentren verbunden, die unterhalb der Bewusstseinsschwelle arbeiten. Ein Drittel unserer motorischen Nerven gehört zum Gammasystem. Daraus läßt sich die Bedeutung und das Ausmaß unbewusster Bewegungsanteile an bewusst ausgeführten Bewegungen ermessen.

Sich selbst spüren ist entscheidend

Als Aikidolehrer und Körpertherapeut mache ich immer wieder die Erfahrung, dass die Schwierigkeiten bei Erlernen neuer Bewegungsmuster und Körperhaltungen hauptsächlich in dysfunktionalen aber tief verinnerlichten alten Mustern und in mangelnder Selbstwahrnehmung liegen und weniger in der motorischen Unfähigkeit, eine bestimmte Bewegung auszuführen. Es sind die in den unterbewussten Koordinationszentren unseres Nervensystems, hauptsächlich dem Kleinhirn, durch lange Gewohnheiten buchstäblich eingegrabenen Nervenzellverbindungen, die es durch das Training zu ersetzen bzw. zu überlagern gilt. Interessanterweise machen diejenigen meiner Schüler und Schülerinnen die schnellsten Fortschritte, die mit wenig Kraft üben und einen nicht zu hohen Muskeltonus haben. Geringer Krafteinsatz erleichtert das Fühlen einer Bewegung und versorgt dadurch die Bewegungszentren im Gehirn mit reichhaltigen sensorischen Informationen, die sich durch kontinuierliches Üben zu neuen und stabilen Nervenzellnetzwerken ausbauen können. Aikidobewegungen werden so zu gefühlten „Gestalten“. Da dieser Prozess zum größten Teil in den subcortikalen Bereichen des Gehirns abläuft, braucht er, wie jeder Aikidopraktizierende weiß, viel Zeit.

Sind diese neuen Bewegungsmuster durch langjähriges Training tief in uns verankert, dann stellen sie sehr viel mehr dar als einen Set von perfekt ausführbaren Kampfkunsttechniken. Sie werden zu einem sehr persönlichen Organisationsprinzip unseres körperlich-energetischen Selbstausdrucks und prägen alle unsere Handlungen. Sie machen uns zum Dirigenten eines komplexen Klang“körpers“, der in der Lage ist, mit anderen Klangkörpern in Verbindung zu treten um - hoffentlich - Wohlklang zu erzeugen.

Bertram Wohak


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